Funkhaus
Wien, Österreich
Viele Zeitzeug*innen wissen genau die Umstände, in denen sie sich zum Zeitpunkt eines historischen Ereignisses befanden. Ich erinnere mich etwa, dass ich die Nachricht vom Ausbruch des Ukraine Krieges im Supermarktradio hörte, als ich gerade zur Butter im Kühlregal griff.
Der Jugoslawienkrieg markierte einen Paradigmenwechsel, einen Zerfall und die Bildung neuer staatlicher Ordnungen. All das war am Vorabend des Krieges absehbar, nicht jedoch die Dauer. Der 10-Tage-Krieg in Slowenien war der erste Konflikt um die Unabhängigkeit einer jugoslawischen Republik und es sollte leider auch der kürzeste Konflikt bleiben. Hier wurde das Tabu des ersten Schusses gebrochen und der Bürgerkrieg begann. Durch meine Recherchen im ORF-Archiv, zu dem ich Dank Helene Maimann Zugang erlangte, konnte ich einen genaueren Eindruck dieses Tages erlangen. Was lief in dieser Nacht in den Fernsehnachrichten? Was wurde kleingeredet, was wurde befürchtet? In den tagesaktuellen Nachrichten scheinen ganz andere Details auf, als in den Geschichtsbüchern:
Da die jugoslawische Armee die souveräne Landesgrenze wieder herstellen sollte, wurden dort Kämpfe erwartet. Urlauber mussten Grenzposten großräumig umfahren und das führte zu Staus und heißlaufenden ÖAMTC-Telefonen (in einer Zeit ohne Navigationsapps). Eine große Portion der Abendnachrichten lieferte folglich Informationen zu Ausweichrouten.
Der Kurzfilm „Funkhaus“ spielt in einer spannungsgeladenen Nacht: Erste Zusammenstöße hatten bereits stattgefunden, aber das Wort Krieg wollte noch kaum jemand in den Mund nehmen. Weder Nachrichtensprecher*innen noch Interviewpartner*innen auf österreichischer oder slowenischer Seite. Das änderte sich am nächsten Tag, nachdem im Morgengrauen der Angriff auf zahlreiche Grenzstationen begonnen hatte. Wir steigen in die Geschichte ein, wenige Minuten bevor drohender Horror zu schrecklicher Gewissheit wird. Die Umstände sind historisch akkurat, die Zeitspanne des Kurzfilms wurde dramatisiert, um einen Eindruck der Stimmung zu geben, weniger ein Protokoll der Ereignisse.
Die Belegschaft des ORF-Funkhaus befindet sich am Anfang der 90er Jahre in einer Umbruchszeit zwischen analogem und digitalem Journalismus. Informationen werden zu ganz anderen Geschwindigkeiten verbreitet, als heute gewohnt und mit anderen Geräten. Für die Recherche solch historischer Details durften wir uns über die Beratung durch Peter Klein, Walter Gröbchen und Terezija Stoisits freuen, die zu dieser Zeit im ORF-Funkhaus beziehungsweise im Ministerium tätig waren.
Unsere Ausstattung verwendet einige dieser Erkenntnisse, um die Szenen mit authentischer analoger Technologie zu füllen. Viele Räume werden allerdings im Originalzustand belassen. Nachts ist das ORF-Funkhaus eher dunkel und von Schatten gefüllt. Unser Lichtdepartment wird diesen Eindruck mit zahlreichen dunklen Schlagschatten verstärken, die Information vorenthalten. Der unausweichliche Tagesanbruch gibt dem finalen Bild des Kurzfilms den Look des Sonnenaufgangs.
Nach intensiven Schreibphasen und vielen Überarbeitungen fühle ich mich nun befähigt, diese Nacht auf meine Art zu erzählen.
ANDREJ HARING (Regie)